Das Theresienstädter Familienlager in Auschwitz-Birkenau

Im September 1943 wurden aus dem Theresienstädter Ghetto in zwei Transporten 5 000 Häftlinge nach Auschwitz-Birkenau deportiert, die im Unterschied zu früheren Transporten ungewöhnliche Privilegien erhielten: nach der Ankauft machten sie nicht die übliche Selektion durch und es kam auch nicht zur Trennung der Familien in verschiedene Sektionen des Lagers - gerade aus diesem Grunde wird das entstandene Lager in Auschwitz-Birkenau Familienlager genannt. Zu den Privilegien gehörte auch, dass die Theresienstädter Häftlinge nach der Ankunft nicht dem demütigenden Ritual des Kopfscherens unterzogen wurden und dass sich die Kinder tagsüber in einem speziellen Kinderblock aufhalten konnten. Im Dezember 1943 und Mai 1944 kamen dann in mehreren großen Transporten aus Theresienstadt weitere 12 500 Häftlinge in Auschwitz II-Birkenau an, die im Familienlager untergebracht wurden. Während die ersten Transporte ausschließlich aus Häftlingen bestanden, die aus den tschechischen Ländern nach Theresienstadt deportiert worden waren, stammte in den späteren Transporten etwa die Hälfte der Deportierten aus Deutschland, Österreich oder den Niederlanden.

Im Familienlager, das in Birkenau als Sektion BIIb bezeichnet wurde, vegetierten die Häftlinge auf einem engen schlammigen Streifen Land, der von einem Elektrozaun umgeben war, vor sich hin. Sie litten unter Hunger, Kälte, Erschöpfung, Krankheiten und schlechten hygienischen Bedingungen. Die Sterblichkeit war hier nicht niedriger als anderswo in Auschwitz. Die Kinder durften tagsüber im Kinderblock sein, wo sie sich mit den vom charismatischen Fredy Hirsch geführten Erziehern mit improvisiertem Unterricht und Spielen beschäftigten.

Die Privilegien, die die Häftlinge im Familienlager bekamen, stellten für die Mitglieder der Auschwitzer Widerstandsbewegung ein großes Rätsel dar. Nach einiger Zeit gelang es ihnen jedoch aufzudecken, dass in den Personaldokumenten der Häftlinge die Abkürzung SB und eine Frist von 6 Monaten vermerkt waren. Die Abkürzung SB bedeutete Sonderbehandlung, was im Nazi-Jargon eine Bezeichnung für die Hinrichtung ohne Urteil, in Auschwitz in der Regel der Tod in Gaskammern, war.

Genau nach sechs Monaten ihres Aufenthaltes wurde den Häftlingen, die im September 1943 nach Auschwitz deportiert worden waren, mitgeteilt, dass sie in das Arbeitslager Heydebreck verlegt würden. Anstatt in dieses fiktive Lager brachten die LKWs die Häftlinge jedoch in die Auschwitzer Gaskammer, wo sie in der Nacht vom 8. zum 9. März 1944 ohne Selektion ermordet wurden. Mehreren Zeugnissen nach sangen sie vor dem Tod in den Auschwitzer Gaskammern als ein Zeichen des Widerstandes die tschechoslowakische Staatshymne, die jüdische Hymne Ha-Tikvah und die Internationale. Die Mitglieder der Auschwitzer Widerstandsbewegung warnten Fredy Hirsch und weitere Häftlinge des Familienlagers vor ihrer drohenden Ermordung und riefen zum Aufstand auf - für die Vorbereitung und Organisation des bewaffneten Widerstandes blieb jedoch nicht genug Zeit. Fredy Hirsch, von dem die Führung des Aufstandes erwartet wurde, starb an einer Überdosis von Beruhigungsmitteln. Wahrscheinlich beging er Selbstmord.

Die restlichen Häftlinge des Familienlagers lebten seit jener Zeit in der ständigen Angst, dass auf sie nach sechs Monaten das gleiche Schicksal warten würde. Anfang Juli 1944 bestätigten sich diese Befürchtungen: im Unterschied zu den Aktionen im März wurden diese Häftlinge jedoch einer Selektion unterzogen und ein Teil von ihnen wurde zur Arbeit in andere Konzentrationslager geschickt. Durch einen glücklichen Zufall gelang es, Mengele zu überzeugen, eine Selektion unter den Jungen aus dem Kinderblock durchzuführen – einem Teil von ihnen glückte es dadurch, die Befreiung zu erleben. Im Familienlager verblieben ungefähr 6000-7000 Häftlinge, die zwischen dem 10. und 12. Juli 1944 in zwei Nächten ermordet wurden. Von den 17 500 Häftlingen des Familienlagers überlebten nur 1294.

Bis heute ist nicht ganz klar, warum die Organisatoren der „Endlösung“ das Familienlager mit seinen – für Auschwitzer Verhältnisse – ungewöhnlichen Privilegien errichteten, um es nach nur wenigen Monaten wieder aufzulösen. Klar ist nur, dass diese merkwürdige Aktion mit den nationalsozialistischen Bestrebungen, den Genozid an den Juden vor der Außenwelt zu verschleiern und mit dem Besuch der Kommission des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes in Theresienstadt zusammenhing, für den die Theresienstädter SS-Lagerkommandatur aus dem bereits genannten Grund befahl, das Ghetto zu „verschönern“. Dem Delegierten des Roten Kreuzes führte dann die Theresienstädter SS-Lagerkommandatur ein potemkinsches Dorf vor, das nur wenig mit der grausamen Theresienstädter Realität gemeinsam hatte. Den Häftlingen des Familienlagers wurde ein paar Tage vor ihrer Ermordung befohlen, ihren Theresienstädter Verwandten vorausdatierte Postkarten aus dem „Arbeitslager Birkenau“ zu schreiben. Den Theresienstädter Häftlinge sollten auf diese Weise vor dem Besuch des Vertreters des Roten Kreuzes vorgetäuscht werden, dass es ihren Eltern, Kindern oder Geschwistern in Birkenau gut ginge und vor allem, dass sie am Leben sind. Einige Historiker sind auch der Meinung, dass das Familienlager für einen ähnlichen Besuch des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes – diesmal in Auschwitz – dienen sollte.

Die Auflösung des Familienlagers am 8. März und 10.-12. Juli 1944 war der größte Massenmord an tschechoslowakischen Bürgern zur Zeit des Zweiten Weltkrieges.

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Kateřina Čapková

 

Literatur:

Brod, Toman, Kárná, Margita und Kárný, Miroslav. Terezínský rodinný tábor v Osvětimi-Birkenau (The Terezín Family Camp in Auschwitz-Birkenau). Praha: Terezínská iniciativa - Melantrich, 1994. 208 s.

Ondřichová, Lucie. Příběh Fredyho Hirsche (The Story of Fredy Hirsch). Praha: Institut Terezínské iniciativy, 2001. 113 s.

Kateřina Čapková: Das Zeugnis von Salmen Gradowski, in: Theresienstädter Studien und Dokumente 1999, S.105-111

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