Die Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung

Durch die Okkupation des westlichen Teils Polens fielen den Nazis zwei Millionen Jüdinnen und Juden in die Hände - vier Mal so viele wie 1933 in Deutschland gelebt hatten. Diejenigen, die in den polnischen Gebieten lebten, die an das Deutsche Reich annektiert worden waren, (Warthegau, Posen, Ostschlesien und Ost- und Westpreußen) sollten als erste vertrieben werden. Alleine in den ersten Monaten der Besetzung sank ihre Zahl von 600 000 auf ungefähr die Hälfte. Ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung floh, ca. 100 000 Personen wurden ins „Generalgouvernement“ deportiert, wo nun die ersten Ghettos gebildet wurden.

Dem Prozess der Ghettobildung, der hauptsächlich auf die von den Nazis besetzten Gebiete Osteuropas beschränkt war, ging im Deutschen Reich eine andere Entwicklung voraus. Bereits seit 1935 hatte die Nazi-Führung darüber debattiert, diejenigen, die sie als „jüdisch“ kategorisierte auch räumlich von der übrigen Bevölkerung zu isolieren. Ghettos im Reich selbst einzurichten kam dabei jedoch nicht in Frage, denn dieses Gebiet sollte so schnell wie möglich „judenfrei“ werden. Ab 1939 nahmen die Fälle, in denen Jüdinnen und Juden ihre Wohnungen verlassen und in sogenannte „Judenhäuser“ ziehen mussten, erheblich zu. Einschränkungen der Teilnahme am öffentlichen Leben wie das Verbot, Parks und Schwimmbäder zu besuchen, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, Zeitungen zu kaufen oder Radios zu besitzen isolierten die Betroffenen immer weiter von der Gesellschaft um sie herum. Diese Maßnahmen wurden auch auf die deutsch besetzten westlichen Länder übertragen und gipfelten schließlich vorerst in der Pflicht, in der Öffentlichkeit den sogenannten „Judenstern“ gut sichtbar an der Kleidung zu tragen, die 1941/1942 eingeführt wurde.

Die Ghettos, die ab 1939 vor allem im „Generalgouvernement“ errichtet wurden, enstanden nicht als Teil eines großen „Masterplans“, sondern waren zunächst das Ergebnis des Scheiterns anderweitiger Pläne zur Vertreibung der aus Sicht der Nazis unerwünschten Bevölkerungsgruppe. Sie waren zentrales Element der nationalsozialistischen Judenverfolgung und spielten auch für den später erfolgenden Massenmord eine Schlüsselrolle. Die von den Nazis errichteten Ghettos für Jüdinnen und Juden lassen sich nach verschiedenen Typen unterscheiden. Die ersten Ghettos, die von 1939 bis 1941 im besetzten Polen errichtet wurden, dienten in erster Linie der Isolation der jüdischen Bevölkerung. Die ab dem Sommer 1941 gebildeten Ghettos dienten bereits bewusst der Vorbereitung der späteren systematischen Ermordung ihrer Insassen, und ein dritter Typ wurde nur zur Durchführung von Deportationen in die Vernichtung temporär eingerichtet, so beispielsweise 1943 in Saloniki und 1944 in Ungarn.

Wenn auch das Wort diesen Schluss nahelegt, so hatten die nationalsozialistischen Ghettos nichts gemeinsam mit denen des Mittelalters. Die jüdischen Wohnviertel des Mittelalters erfüllten zumindest teilweise für ihre Bewohnerinnen und Bewohner die Funktion eines geschützten Raumes. Die nationalsozialistischen Ghettos hingegen waren lediglich Stationen auf dem Weg in die Vernichtungslager und Arbeitskräftereservoir für die deutsche Kriegswirtschaft. Ebenfalls entgegen dem meist vorherrschenden Bild der nationalsozialistischen Ghettos waren die meisten dieser Orte nicht wie die großen Ghettos Litzmannstadt und Warschau tatsächlich durch Mauern oder Zäune von den übrigen Stadtvierteln getrennt. Vor allem in kleineren Städten waren die Ghettogrenzen lediglich durch Schilder markiert und Verbote sollten sicherstellen, dass niemand heraus oder hinein kam, der dort nicht sein sollte. Manchmal, wie im Falle des Transitghettos Izbica, wurden gar ganze Ortschaften zum Ghetto.

Oftmals ging die Errichtung von Ghettos bereits mit Massenmorden einher. Bevor die übrigen Jüdinnen und Juden im Ghetto zusammengetrieben wurden, erschoss die deutsche Polizei all diejenigen, die ihr als nicht arbeitsfähig erschienen. Die ortsansässigen Jüdinnen und Juden fielen häufig auch nach ihrer Ghettoisierung Massakern zum Opfer, wenn Transporte aus dem Deutschen Reich oder auch dem Protektorat angekündigt waren – diese Massenmorde dienten dazu, Platz für die nächsten Opfer zu schaffen.

In den Ghettos selbst waren die sogenannten „Judenräte“ für die Organisation der inneren Abläufe zuständig. Diese Zwangsselbstverwaltungen waren von den Nazis zunächst noch ohne Zusammenhang mit den Ghettos befohlen worden und sollten ihnen als Werkzeug für die Kontrolle der späteren Opfer der Massenernichtung dienen. In den Ghettos übernahmen die „Judenräte“ dann gewzungenermaßen all diejenigen organisatorischen Aufgaben, die ihnen die Nazis übertrugen – sie organisierten ebenso die Verpflegung wie die Zuteilung zur Zwangsarbeit als auch die Zusammenstellung der Deportationslisten. Sie verfügten selbst nur über den geringsten Handlungsspielraum, bildeten aber die einzigen Ansprechpartner für die Ghettoinsassen, so dass ihnen häufig nicht nur die Verantwortung für tatsächlich eigenes Fehlverhalten, sondern zumeist auch die Verantwortung für das Handeln der Nazis zur Last gelegt wurde.

 

Ein Bewohner eines unidentifizierten polnischen Ghettos, ca. 1940. (Foto: Harry Lore, mit Genehmigung des USHMM Photo Archives.)

Die Lebensbedingungen in den Ghettos waren in erster Linie geprägt von Mangel. Es fehlte an Wohnraum und Nahrung ebenso wie an Hygiene. Vor allem in den geschlossenen Ghettos wie Litzmannstadt oder Warschau breiteten sich Krankheiten und Seuchen aus. Zwangsarbeit wurde zum immer wichtigeren Faktor für das Überleben Einzelner, während die Hoffnung, die viele Judenräte hegten, dass „ihr“ Ghetto solange Bestand haben würde, wie produktiv gearbeitet wurde, reine Illusion war. Bis auf wenige Ausnahmen wurden ausschließlich Jüdinnen und Juden in den nationalsozialistischen Ghettos festgehalten. Nach Litzmannstadt, Warschau und Lemberg wurden jedoch auch Sinti und Roma deportiert.

Die Auflösung der Ghettos bedeutete für die meisten seiner Insassinnen und Insassen den Tod, entweder durch Deportation in die Vernichtungslager oder durch Erschießung an Ort und Stelle. Die Deportation in ein anderes Lager bildete eher den Ausnahme- als den Regelfall. Die letzten Ghettos auf dem Gebiet des besetzten Polen wurden im Spätsommer 1943 aufgelöst.

 

Literatur:


Pohl, Dieter. Ghettos. Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 9: Arbeitserziehungslager, Ghettos, Jugendschutzlager, Polizeihaftlager, Sonderlager, Zigeunerlager, Zwangsarbeiterlager. München: C. H. Beck, 2009, s. 161-191.

Hänschen, Steffen. Das Transitghetto Izbica im System des Holocaust. Berlin: Metropol, 2018.

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